Erik Schönenberg – Matthias Neumann Ungeteilte Aufmerksamkeit

Die Fotografien Koloss I (2012) und Koloss II (2013), die den vorliegenden Katalog
einleiten, sind ein Wendepunkt im fotografischen Werk von Matthias Neumann. Sie
bilden den Übergang von früheren Serien zu der aktuellen Serie der Urbanics und
markieren einen Schnitt zwischen unterschiedlichen fotografischen Techniken und
Handlungen. Hat Matthias Neumann seine Technik der Verwischungen anhand
klassischer Gattungen von Landschaften, Architekturen und, im weitesten Sinne,
Portraits durchgeführt, konzentriert er sich seit 2013 mit der Serie Urbanics auf Motive
im städtischen Raum. Die Modi des fotografischen Diskurses der Verwischungen und der
Urbanics sind sich zwar ähnlicher als es der erste Blick vermuten ließe, doch beschreibt
der Unterschied nicht weniger als eine Wende von einer subjektiven zu einer objektiven
Sicht, von einer piktoralistischen zu einer direkten Fotografie, von einer Dauer zu einem
Moment.

I. Koloss

Es ist zu vermuten, dass die Titel der beiden Fotografien schon allein der wörtlichen
Bedeutung von gewaltig und beeindruckend geschuldet sind und der Fotograf damit die
Wirkung der Objekte beschreibt, die für ihn selbst neu und faszinierend gewesen sein
muss, nachdem er zuvor ganze Räume vermessen hatte, um sie zu einem Bild zu
verdichten. Vor allem deshalb, weil er durch die Motive eine Vielschichtigkeit entdeckt,
die seinen Fotografien weitere Bedeutungsebenen hinzufügen.
Koloss I zeigt eine Bunkerruine, aufgenommen am Strand von Montalivet, die Teil des in
den 1940er Jahren errichteten Atlantikwalls war. Zentral in den Bildmittelgrund gesetzt,
raumbeherrschend und statisch, bildet sie für den Blick eine Barrikade und einen
deutlichen Kontrast zu der weiten Seelandschaft, deren mittig in der Tiefe liegende
Horizontlinie von dem brutalistischen Solitär jäh unterbrochen wird. Dadurch wird der
Blick immer wieder von der Landschaft abgezogen und auf das Objekt gezwungen.
Zweifelsfrei entspricht hier die fotografische Inszenierung der historischen Konnotation
des Bunkers. Gleichzeitig löst sie eine ungeheure Faszination aus. So ist das
Bunkerfragment in der Aufnahme leicht diagonal gegen den Horizont gesetzt und erhält
dadurch einen dynamischen Status. Seine auskragenden Stützen bilden eine Art Patio
und erscheinen als gewaltige Arme, die eine mechanisch-industrielle, apokalyptische
Figur assoziieren lassen, welche sich jederzeit in Gang setzen kann. Des Weiteren zeigt
die Oberfläche Spuren einer kulturellen Gegenwart, die mit der historischen Bedeutung
spielen bzw. diese konterkarieren. Einerseits ist sie überzogen mit Schriftzeichen und
Kommentaren, andererseits mit einer, teilweise das Sandgrau des Betons
kaschierenden, von weißen Schlieren durchzogene, hellblaue Farbschicht. In der
Wahrnehmung verbinden sich das Grau mit dem feuchten Sand, das Blau mit dem
Himmel sowie der zurückgezogenen See und das Weiß mit den Wolken und der Gischt
der Wellen. Es ist vor allem die Erzählung der Farbe, die eine ästhetische Verbindung
der Elemente schafft und dabei gleichzeitig die Wirkung des Kontrastes betont. Die
Fotografie offenbart einen Moment, indem die unterschiedlichen Indizes eine
andauernde Geschichte erzählen, die weit über ihn hinausreicht. Ohne dies in aller
Ausführlichkeit darzustellen, ist offensichtlich, dass Koloss II eine vergleichbare
Kompositionsstruktur und mit den Ritzspuren auf dem moosbewachsenen Stein, der
Anordnung desselben in der Bildmitte, der Farbkontraste, mit dem Fehlen horizontaler
Linien und schließlich mit dem Spiel von Licht- und Schattenzonen, eine ebensolche
Komplexität aufweist.

II. Verwischungen

Ein Ausgangspunkt des fotografischen Konzepts der Serien Landschaft, Architektur und
Lichttänze ist für Matthias Neumann die auditive Wahrnehmung. Dabei bezieht er sich
auf das Erleben von Musik, welches sich vor allem in der Zeit vollzieht bzw. an eine
Zeitdauer gebunden ist, zu denen die Verwischungen mit ihren schleierhaften
Vibrationen eine Analogie bilden.
Die Auflösung des abzubildenden Gegenstandes in farbliche Sensationen erreicht
Matthias Neumann, indem er eine Belichtungszeit zwischen ¼ und 1 Sekunde wählt und
währenddessen die Kamera mit schnellen Bewegungen in verschiedene Richtungen
reißt. Die Langzeitbelichtung als fotografischer Parameter ist dem Medium inhärent,
definierte sich allerdings lange Zeit durch die Abhängigkeit zur
Bewegungsgeschwindigkeit des Objekts, der Distanz zum unbeweglichen Apparat und
dem Ziel ablaufende Bewegungen von Objekten als eine dynamische Kontinuität
darzustellen. Entscheidend für die Verwischungen von Matthias Neumann hingegen ist,
dass er das Verhältnis umdreht und eine Dynamik durch die Bewegung des
Aufnahmeapparates erreicht.
Die Umsetzung bedarf nicht nur extremsportlicher Übung und einer analogen Technik,
sondern vor allem ein Bewusstsein für entstehende Kompositionen und deren Wirkung.
Entscheidend ist, dass raumbeschreibende Bezugspunkte, wie z.B. Bäume, aufgelöst
werden und damit für die Betrachter keine eindeutige Bestimmung mehr möglich ist.
Andreas Steffens hat das Ergebnis treffend zusammengefasst: „Die Langzeitbelichtung
(…) lässt damit ein Bild entstehen, in dem die Spuren der Beschleunigung, die das 
statische Bild des Gesehenen auflösen, ihrerseits vor Augen treten.“ii Mit seiner
fotografischen Technik verschiebt Matthias Neumann die Repräsentation von der
Abbildung zur Vorstellung und Idee eines Raumes. Anders gesagt, ermöglicht das
Verfahren „Erfahrungserkenntnisse“ und eine Fotografie, „die sich nicht durch Ablichten
begreift, sondern ein Bild entstehen läßt, das den subjektiven Blick im Kunstwerk
objektiviert.“iii Wenn Andreas Steffens zudem den Akt als realsymbolischen bezeichnet
und die Kamerabewegung als Verdichtung der „Dynamik des Lebens, das sich auf sein
Ende hin in der Todeserstarrung des Organismus verzehrt“iv, trifft er damit eine
Transzendenz, auf die Matthias Neumann abzielt.

III. Urbanics

Nicht nur, dass nach den Kolossen die Schleier der Verwischungen gelüftet werden. Die
Langzeitbelichtungen werden zu Momentaufnahmen, die piktoralistische Tradition zu
einer sachlichen. Die Konzentration der Serien auf einzelne Gattungen weicht einer
Motivik, die unterschiedliche urbane Szenerien erfasst und eine Vielzahl von visuellen
Informationen über Orte, Gebäude und Passanten miteinander verbindet. Auffällig ist
zunächst, dass Matthias Neumann – im Gegensatz zu vorherigen Serien – nicht nur die
Kamera zum unbewegten Objekt macht, sondern auch eine planparalelle
Kompositionsstruktur konstruiert, bei der Vorder-, Mittel- und Hintergrund streng
gestaffelt sind. So bei Milano (2014) der Gehweg mit Passanten, die Läden der Messe
und der historische Palast, bei Köln-Düsseldorfer (2014) die Spiegelung des Stegs, das
Schiff mit Passagieren und das jenseitige Rheinufer oder bei Koch am Wall (2014) die
Straße sowie der Bürgersteig mit den Wartenden, der angehäufte Schutt und das
Gebäude. Dabei werden die Bildgründe – vergleichbar mit der Komposition in Koloss I –
nicht bzw. nur durch wenige Einzelheiten miteinander verbunden. So lassen sich zwar in
Milano einzelne Details des Palazzo dei Giureconsulti präzise betrachten, die Sicht wird
aber durch den oberen Bildrand sowie die Funktionsarchitektur der Läden
eingeschränkt und erschwert jede weitere räumliche Verortung. Ein Charakteristikum,
dass Matthias Neumann bei den Verwischungen durch eine völlig andere Struktur
erreichte. Hier werden die Elemente der dunkelgrauen Konstruktion der Messeläden
betont, die in augenfälligem Kontrast zu dem Palast aus dem 16. Jahrhundert stehen.
Diese wiederum werden konterkariert durch die Personengruppen, die unterschiedliche
Verdichtungen und Auflösungen, und damit keine eindeutigen, zielgerichteten
Relationen, aufweisen. Auch wenn es für den Blick einige Ankerpunkte und
Verbindungen gibt, wie z.B. das diagonale Band in Rosa, die die Fassade schmückende
Skulptur des Heiligen Ambrosius rechts im Bild in Korrespondenz zu der einzigen
ebenfalls frontal ausgerichteten Figur im linken Teil oder die farbliche Korrespondenz
der blauen Fahnen links oben mit dem Blau der Hose unten rechts.

Durch ihre strenge kompositorische Gestaltung und der gleichzeitig überbordenden
Fülle von Informationen entsteht ein Eindruck von Ordnung und Chaos, durch den
unsere Wahrnehmung permanent herausgefordert wird. Noch deutlicher wird dies bei
einem Bild wie Hbf (2013). Mit ihrer Menge an unterschiedlichen Formen und Flächen
scheint die Fotografie aus vielzähligen einzelnen ‚Bildern’ zusammengesetzt zu sein und
keine räumliche Stringenz mehr aufzuweisen. Durch die zahlreichen Ebenen,
Durchblicke und Spiegelungen, die Fenster, Objekte und Personen entsteht ein
fragmentierter Raum, der zwar in seiner Funktion und seinen Parametern bestimmbar
ist, den Blick aber immer wieder in verschiedene Zonen springen lässt und so den Ort
und sein Narrativ in unzählige Splitter auflösen. Unübersehbar, dass hier der
Betrachterstandpunkt außerhalb des Geschehens liegt und die Szenerie durch eine
Glasfläche wahrgenommen wird, deren Spiegelungen und Lichtreflexe den Eindruck
noch verstärken.

Die Fotografie charakterisiert den Raum als einen Ort, in dem Geschichte, Relation,
Identität und Kommunikation als temporäre Konstellationen stattfinden. Sie lässt
erkennen, dass Urbanität aus Prozessen entsteht, bei denen durch soziale und räumliche
Aktion und Interaktion das Leben immer wieder neu ausgehandelt wird. Die Fotografien
von Matthias Neumann zeigen allesamt ein andauerndes Ineinandergreifen von
Prozessen, ein Fließen der Dinge und des Geschehens, eine Dynamik und Lebendigkeit,
denen der Fotograf vor allem eines zollt: Ungeteilte Aufmerksamkeit.

©Erik Schönenberg, 2015


Andreas Steffens – Sehend hören, hörend sehen 

Matthias Neumanns synästhetisches Experiment einer Bild-Klang-Collage

Vergleichen lassen sich Farbe und Ton untereinander auf keine Weise, aber beide
lassen sich auf eine höhere Formel beziehen, aus einer höheren Formel beide, jedoch
jedes für sich, ableiten. (…). Beide sind allgemeine elementare Wirkungen nach dem
allgemeinen Gesetz des Trennens und Zusammenstrebens, des Auf- und
Abschwankens, des Hin- und Wiederwägens wirkend, doch nach ganz verschiedenen
Seiten, auf verschiedene Weise, auf verschiedene Zwischenelemente, für verschiedene
Sinne.

Goethe, Farbenlehre, Verhältnis zur Tonlehre, Nr. 748

Jeder kennt ihn, hat ihn, meistens in jüngeren Jahren, mindestens einmal erlebt, den Moment,
in dem ein Klang mit einem Anblick, ein Geruch mit einem Geräusch sich in auf Lebenszeit
wirkender Einprägsamkeit miteinander verbanden. Der Struktur nach geschieht jede in den
Fundus des Gedächtnisses eingehende Wahrnehmung auf diese Weise. Unser Gedächtnis
besteht aus ins Unterbewußte eingeschriebenen synästhetischen Sensationen.

       Seitdem die bildenden Künste sich vom Diktat der klassischen Ästhetik lösten, das jede
bildnerische Leistung auf ‚Nachahmung’ verpflichtete, gehört die Erkundung von
Wahrnehmung zu ihren Einsätzen. Die Praktiken der Gestaltung von Wahrnehmung wurden
endgültig seit dem Impressionismus um solche experimenteller Erforschung des
Wahrnehmens selbst erweitert.

        Zwischen diesen Polen ihrer Gestaltung und der Erforschung von Wahrnehmung ist
Matthias Neumanns synästhetisches Experiment angesiedelt.

        Die Romantik hat die Poesie der Bilder so nachhaltig entdeckt, dass sie als Inbegriff einer
Welt- und Daseinsstimmung ein ganzes Genre der bildenden Kunst bis heute prägte. In der
Landschaftsmalerei verbanden sich die unsere Kultur neu begründenden ästhetischen
Wahrnehmungen der Welt mit dem Selbstgefühl eines Subjekts, das sein Selbstempfinden auf
die Spiegelung seines Erlebens in den Dokumenten der Wahrnehmung gründete. Aus dieser
Durchdringung von Daseinsgefühl und Welterfahrung entsteht noch heute jede künstlerische
Poiesis.

         Die genuinen Kunstformen der Romantik waren der Roman – das ‚Romantisieren der
Welt’ war ihr ästhetisches Programm – und die Musik. So gibt es ein historisch bereitetes
Feld untergründiger ebenso wie offen programmatischer Beziehungen zwischen den Künsten
des Sehens und des Hörens.

         Von der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts ist es in nahezu unüberschaubarer Fülle
bestellt worden. Dabei liegt das Übergewicht ganz bei der Malerei, die mit dem Informel
selbst zu jener ‚absoluten’ Gestalt fand, die die Musik bereits im 19. Jahrhundert erreichte.
Die Fotografie hat sich auf dieses Feld fruchtbarer Spannung ungleich weniger eingelassen.
Intensive Bemühungen der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind
weitgehend solitär geblieben, und gingen über eine dokumentarische Rolle bei Gelegenheit
von Experimenten wie des ‚Farblichtklaviers’ von Vladimir Baranoff-Rossiné kaum hinaus.

         So sieht Matthias Neumann sich mit seinem Projekt einer synästhetischen Verbindung von
fotokünstlerischem Bild und Musik der paradoxen Situation gegenüber, sich mit ihm zwar in
eine reiche Tradition einzureihen, und dennoch ein Pionier zu sein. Womit er die Vitalität der 
Kunst bezeugt, die zwar von der Verbreitung entwickelter Gestaltungen ihrer Materien lebt,
aber aus den Experimenten zu deren Gewinnung.

         Grundlage des Arrangements ist ein mit den Mitteln der klassischen analogen Fototechnik
generiertes Landschaftsbild („Schleier“). Dessen Betrachter macht Neumann zum Hörer, und
den Hörer zum Betrachter, indem er diesem Bild den Ausschnitt einer Aufnahme des
Streichquartetts C-Dur, opus 163, von Franz Schubert (2. Satz, Mittelteil) zuordnet.

         Hand und Auge des Fotografen haben das Motiv des Bildes in eben der Emotion erfaßt,
die es ihrem Betrachter im Moment der Bildproduktion eingab, die der Emotion des
ausübenden Musikers entspricht, deren Personalunion beide unmittelbar ineinander aufgehen
lassen. Der bildgenerierend sehende Fotograf empfindet als Nachklang aus eigener
musikalischer Aufführungspraxis jene Emotion, an die er sich von seinem Bildmotiv erinnert
fühlt.

         Die Eigenart seiner von ihm entwickelten fotogenerierenden Technik einer Kombination
aus Langzeitbelichtung und extrem beschleunigter Kamerabewegung vor dem Motiv schließt
das Risiko des Illustrativen aus. Weder ‚deutet’ die Musik das Bild, noch das Bild die Musik.

         Die verschiedenen Medien werden in dem Übersprungmoment miteinander verbunden, in
dem die dem Bild und der Musik zugrundeliegenden Emotionen ineinander überfließen. Das
Arrangement, das dem Betrachter des Bildes ermöglicht, zum Hörer der es in unwillkürlicher
sensueller Erinnerung inspirierenden Musik zu werden, verschmelzt beide sinnlichen
Sensationen, die sich im fotografierenden Musiker und im musizierenden Fotografen
verbanden. In der Person des Künstlers sensorisch verbunden, verbindet die Bild-Klang-
Collage die den beiden Kunstäußerungen zugrundeliegenden Emotionen auch für den
Betrachter-Hörer.

         Von der Romantik in der Kunst zur Vorherrschaft ihrer Herstellung ebenso wie ihrer
Auffassung gebracht, war es der in jeder Hinsicht antiromantische Goethe, der die Emotion
zur Grundlage der bildenden Farbkünste erhob. Als individuelle Lehre von der Erfahrung
sinnlicher Wahrnehmung war seine psycho-theologische Ästhetik der >Farbenlehre< ein
ausgeführtes Stück seiner Vision einer Naturforschung jenseits des physikalischen
Paradigmas einer mathematisch formalisierten Mechanik.

         In diesem Horizont steht der Versuch, Klang, Bild, Farbe und Emotion zu einem
Arrangement so miteinander zu verbinden, dass nach den produktiven auch die rezeptiven
Grenzen zwischen den Künsten des Sehens und des Hörens verschwinden können.

         Neumanns Collage gelingt diese Grenzaufhebung durch eine perfekte strukturanaloge
Zuordnung von Bild- und Klang-Emotion: in dem Moment, in dem der Hörer sich von der
beschleunigten Dynamik der Musik hat ganz gefangen nehmen lassen, geraten die Elemente
des Bildes, das er dabei vor Augen hat, in Bewegung.

         So macht die Musik, die er hört, während er schaut, dem Betrachter die bildgenerative
Bewegung von Hand und Auge des fotografierenden Künstlers hörbar.

© Andreas Steffens, 2009